LTB 142 - Alltag der Augen
Sonette
(Lyrik-Taschenbuch Nr. 142)
96 S., fadengeheftet mit Klappen, 2025
ISBN 978-3-89086-142-5
Fels und Mond
Des Mondes spitze Sichel wetzt
die Scharte des Gebirges scharf,
das glüht noch von der Sonne jetzt,
die über Tag die Strahlen warf.
Wie Wäschestücke, ausgesetzt
zur Bleiche, liegen kleine Zipfel
und Fetzen Schnees noch von zuletzt
auf steilen Hängen unterm Gipfel.
Allmählich blaßt der rote Rücken,
und auf dem Felsendach die Lappen
von Schnee sind wie verzinkte Lücken.
Die Zähne des Gebirges schnappen
wie hungrig nach dem goldnen Kipfel
des Monds, der hochschwebt ... unverletzt!
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Aus dem Nachwort:
Die in der Barockzeit beispielsweise bei Gryphius vorherrschende strenge Form [des Sonetts] wurde bis zur Gegenwart häufig nachgeahmt, variiert oder auch parodiert. Victor Wittner löst die feste Form dagegen manchmal sogar teilweise auf, so dass vom Sonett nur noch ein Rumpf übrigbleibt, indem er z.B. den vorgegebenen Strophenbau variiert oder eine Coda, einen abschließenden Vers, hinzufügt. [...] Ein „erstaunliches Formvermögen“ bescheinigt der Kritiker der „Neuen Zürcher Zeitung“ Victor Wittners Sonetten und eine „linguistische Equilibristik, die der Sprache den Meister zeigen will und zeigt“. Aber auch aktuelle Stimmen sind von den Sonetten überzeugt. So urteilt der Lyriker Richard Dove, dass die Sonette Victor Wittners „ein sehr starker Zyklus sind, dessen anfängliche Frivolität umso unerbittlicher in harte, wahre existentielle Einsichten umschlägt.“ Zudem könne der Zyklus sogar mit „Hofmannsthals Lebenslied konkurrieren“. Der Literaturwissenschaftler und Lyriker Reinhard Kiefer weist im Gespräch darauf hin, dass den zeitgenössischen Sonetten „ein Kompendium alltäglicher und durchaus trivialer Begebenheiten entgegengesetzt wird“.