HB Bd. 04 – Der Hund von Torcello

Lieber Hans Bender, ich habe Ihre Erzählung «Die Wölfe kommen zurück», die mich, als ich sie zum ersten mal las, in einer der ersten Akzente-Nummern, so beeindruckt hat, jetzt noch einmal wiedergelesen. Ich fand den Text in dem alten Hanser-Erzählungsband und nun habe ich auch das ganze Buch gelesen, konnte nicht aufhören und trage es noch immer mit mir herum. Es drängt mich Ihnen zu sagen – mit unziemlicher Emphase – bis zur letzten Zeile finde ich Ihre Erzählung und auch das, was sie darüber und über sich selbst schreiben, ganz großartig! Und ich möchte es jetzt allen Menschen sagen, die mir begegnen: lest diese Erzählungen! Sie sind heute, wo unser kollektives Gedächtnis sich mehr und mehr auf das Klischierte, auf das politisch Gewünschte und Korrekte reduziert, die wahren Erzählungen vom Leben in jener Zeit … Ich wünsche mir, Sie hätten so viele Erzählungen wie Tschechow geschrieben.

-Tankred Dorst

Celan Studien (Neue Folge) 01 – Der Entreimte

Besonders in der Spätlyrik dringt Celan in eine Sprache ein, die immer mehr ausdünnt, aber paradoxerweise auch ungeheuerlich dicht und reich ist. Wie gesehen, gibt es in dieser «orphischen» Dichtung kein Zurück und keine Wiedergeburt, keine Heimat und keine Hoffnung, doch tritt in der Darstellung des Scheiterns der poetischen Aufgabe ein Wort, eine Mitteilung, eine Gabe, die eigentlich ein schwieriges Erbe ist, zu Tage. Die von Celan ist eine Passionssprache als erlittene und im Text sedimentierte Gewalt, in der «der Sinn einer Trennung, eines Kreischens, eines von einer ganzen Kultur gegen den Dichter begangenen Verrats bleibt. Celan hat alles versucht, um sich über die absolute Verzweiflung zu erheben, aber er ist dabei umgekommen. Es bleibt eine Trennung im Herzen der deutschen und europäischen Kultur, eine Spaltung, die leider noch heute, in der Zeit eines neuen menschlichen Zusammenlebens, die untrüglichen Spuren eines Schattens wirft.»

RTB 058 – Mädchenlied

«Diese zarten gleichsam aus Luft und Schwermut gewobenen Gebilde haben für mich einen hohen Reiz, die epischen Schritte sind seltsam traumwandlerisch …»

Gertrud Fussenegger

«… könnte es sein, daß dies im Freien Schweben unsere Freiheit ist? Unsere vielgepriesene große Freiheit? Margot Ehrich spricht von alledem in ihren Geschichten, mir spricht sie davon, anderen gewiß ganz anderes, was ja den Reichtum aller Literatur ausmacht. Sie erzählt mit einer poetischen Souveränität, als wär es selbstverständlich, dies Wort ohne ironischen Kommentar oder Kontext so schlicht und einfach für sich sprechen zu lassen im so ganz und gar enttabuisierten Deutschland unserer Jahre: das Wort Heimat …»

Martin Ahrends

 

 

 

LTB 062 – Algabal

Fühl ich noch dies erste ungemach ·


Sündig eilte fremden stapfen nach


Der um sie den schönsten traum zerbrach:


Wenn mir neulich vor die sinne tritt


Wie ich früh vom gram am tiefsten litt


Bei den gräbern pochend «führt mich mit»:


Deucht er heut mir fast geschwind und sacht ·


Halt ich dich sogar in milder acht ·


Trübster tröster sohn der nacht!

Im Sommer 1891, im Todesjahr Rimbauds, besucht der gänzlich unbekannte Dichter Stefan George (1868–1933) das Schloß Linderhof. Die schöpferische Verwandtschaft, die er zu dem Erbauer des Schlosses, Ludwig II. von Bayern, fühlte, löste in George, wie er schrieb, «heftigen Seelenkatarrh» […]


Zum Zeitpunkt der Schloßbesichtigung arbeitet George an einem schmalen Gedichtband, den er «Algabal» nennen und Ludwig II. widmen wird. Von römischen Soldaten war der vierzehnjährige Algabal im Juni 218 aufgrund seines Priestertums «aus dem Geschlecht des Sonnengottes» (Artaud) und seiner alles überragenden Schönheit auf den Thron gehoben worden. Der Vergleich zu Ludwig liegt auf der Hand; auch Algabal verlegte seine Herrschaft in ein surreales «Unterreich».


Während Ludwig allerdings wegen seiner homosexuellen Veranlagung religiöse Gewissensbisse peinigten, war Algabals Wille wirklich absolut. Nichts in dieser Welt ist denkbar ohne den Herrscher, alles untersteht seinem Willen und existiert nur, weil es ihm gefällt.

LTB 063 – Im Lichte der langen Nacht

Schneestimmung in Jerusalem

Es schneit wieder nach langer Zeit /
allmählich werden die Bäume weiß, /
eine weise Schicht von Weiß /
bedeckt die Hagelkörnerschicht im Gras /

Weiß wird auch das weite Horizontengrau /
und nah fallen weiße Flocken leis /
mit ihrer kurzbemessenen Zeit auf dich /

Der müde Abend naht /

Vom Fenster sieht alles /
wie ein Märchen aus /
das du gläubig erfahren hast einst /

Es schneit und schneit und du bist weit /
in deine Kind-heit Wind-heit eingeschneit /
als wärst du nicht /
ein alter Mann /
der hinter einem Fenster steht /

und in-sich-weilt

«Manfred Winklers Lyrik lebt aus der Spannung zwischen und der Synthese von Sinnenhaftigkeit und Abstraktion, aus poetischem Drang zum Visionären und zur eigenwilligen Reflexion.»

Hans Bergel

 

 

 

 

LTB 064 – Gedichte

Selbstbildnis

Mein Leben ist Sturm /
Ich bin Wind, /
Atem nur und Hauch /
Schein ich mir selber zu sein, /
Bald Dichter – bald Kind, /
Aber in tiefinnerster Seele allein … /
Kenn’ ein Lied, das mich gelehrt, /
In Güte alles zu ertragen, /
Weiß ein Wort, das in mir wohnt, /
Doch kann ich’s niemand sagen, /
So eil’ ich durch’s Leben hin /
Und bleibe Blick nur und Sinn.

 

 

 

LTB 065 – Schon sind wir Mund und Urne

Seele des Sommers

Eh die Nacht noch und ihr Volk in Scharen /
heilen Hauchs die Zäune überstiegen, /
soll der Wein im Schattenkrug versiegen, /
Gerten tränkend, die hineingefahren. /

Kühl im Beerenbusch. Und wir gewahren /
weit hinaus im Auseinanderbiegen, /
wo die raunenden Arenen liegen /
glüh’nd und dunkel, dürstend und agraren. /

Manchmal mit dem Donner der Geräte /
um die Erntewagen leise läuten /
wie im Orgelbrausen schwarze Messen, /

und durch Mohn und Meilenstein die Drähte /
golden blinkend nach den Städten deuten /
der Paläste mit metallnen Tressen.

LTB 101 – Schattengespräche

Dein Schatten

Das Gewicht deines Schattens


nimmt mit jedem Tag zu.


Anfangs trug ich ihn schulterhoch,


wie Rebekka den Krug, und


sprach mit ihm, ungläubig,


ob er mich hört. Aber inzwischen


spüre ich ihn quergestreckt


auf meinem niedergezwungenen Rücken


so als wärst du es selbst.


Und ich weiß nicht,


ob du mich hörst.

LTB 069 – Spanischsprachige Lyrik aus sechs Jahrhunderten Teil II

Memento

Wenn ich sterbe, /
begrabt mich mit meiner Gitarre /
unter dem Sand /

Wenn ich sterbe, /
zwischen den Orangenbäumen /
und den Kräutern. /

Wenn ich sterbe, /
begrabt mich, wenn ihr wollt, /
an einer Wetterfahne.

Federico García Lorca

Eine Anthologie der so reichhaltigen Lyrik Spaniens und Lateinamerikas vorzulegen, ist vor allem deshalb ein schwieriges Unterfangen, weil die Kriterien für die Auswahl der Dichter und ihrer Werke nicht einfach festzulegen sind. Die hier vorgelegte Auswahl ist sicher nicht zu 100 % repräsentativ, aber doch insoweit, als sich behaupten läßt, daß die meisten der großen spanischsprachigen Lyriker der letzten sechs Jahrhunderte zu Wort kommen. Für die Auswahl war es von Belang, wie groß der Einfluß der Dichter auf andere war, ob sie die Dichtung ihrer Zeit gut widergespiegelt haben, ob sie in ihrer Zeit bekannt waren oder es noch sind, und – ob ihre Werke dem, der ausgewählt hat, gefallen.

Spanische Lyrik:
Antonio Machado (1875–1939),
Juan Ramón Jiménez (1881–1958),
Fernando Villalón (1881–1990),
Ramón Pérez de Ayala (1881–1962),
José del Río Sainz (1884–1964),
Pedro Salinas (1891–1951),
Jorge Guillén (1893–1984),
Gerardo Diego (1896–1987),
José María Pemán (1897–1981),
Vicente Aleixandre (1898–1984),
Dámaso Alonso (1898–1990),
Federico García Lorca (1898–1936),
Emilio Prados (1899–1962),
Rafael Alberti (1902–1999),
José María Hinojosa (1904–1936),
José Hierro (1922–2002),
Anonymus.

Lateinamerikanische Lyrik:
Rubén Darío (Nicaragua, 1876–1916),
Óscar Hahn (Chile, geb. 1938),
Gabriela Mistral (Peru, 1893–1938),
César Vallejo (Peru, 1893–1938),
Jorge Luis Borges (Argentinien, 1899–1986),
Francisco Luis Bernárdez (Argentinien, 1900–1978),
José Gorostiza (Mexiko, 1891–1973),
Xavier Villaurrutia (Mexiko, 1903–1950),
Pablo Neruda (Chile, 1904–1973),
Eduardo Carranza (Kolumbien, 1913–1985),
Nicanor Parra (Chile, geb. 1914),
Octavio Paz (Mexiko, 1914–1998),
Ernesto Cardenal (Nicaragua, geb. 1925),
Leopoldo Chariarse (Peru, geb. 1928),
María Elena Walsh (Argentinien, geb. 1930).

Zwischen dem Jetzt und dem Jetzt

Sedimente

Grau-Gestein


Schwarz-Gestein


und auch Buntes

Gestaffelt


fest ineinandergefügt

zwing dich hinein


schaff Platz für die Träne

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Ilana Shmueli, 1924 in Czernowitz geboren, seit 1944 in Israel, arbeitete über lange Jahre als Sozialpädagogin in Tel Aviv. Sie starb im November 2011 in Jerusalem. Im Suhrkamp Verlag liegt ihr Briefwechsel mit Paul Celan vor.

“Mit nur wenigen Worten beschreibt Shmueli den feinen Sand eines Stundenglases. Dieser Sand jedoch, der grau und schwarz und bunt erscheint, rieselt nicht, befindet sich nicht in Bewegung, sondern verharrt gestaffelt und fest ineinandergefügt. Die einzelnen Sedimente stehen still und mit ihnen bildhaft die Zeit.”

Leserbrief von S. List